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Zwar eine alpine Sportkletter-Route, allerdings in der ernsten Atmosphäre der Eigerwand. Im Sommer 2003 gelang den beiden Berchtesgadenern Ines Papert und Hans Lochner die erste Rotpunkt-Begehung an einem Tag.
Es ist tatsächlich etwas Besonderes, unter einer ganz großen Wand wie der Eiger-Nordwand oder unter den Wänden der Drei Zinnen zu stehen. Man fühlt sich so winzig klein und spürt weiche Knie. Bis man sie entdeckt, die Linie. Das Brennen im Magen beginnt, und man muss gleichsam zwanghaft durch diese Wand hinauf. Aber natürlich ameisengleich ohne technische Hilfsmittel zur Fortbewegung, denn für uns zählt nur der Rotpunktgedanke. Er ist die Triebfeder und der Motivationsmotor für jahrelanges Training.
Der Eiger ruft
Damit man sich aber an einem so großem Brocken wie dem Eiger nicht die Zähne ausbeißt, muss die Logistik stimmen. Zur Vorbereitung führt uns die Reise zu den Nordwänden der Drei Zinnen, zu Routen wie »Perlen vor die Säue« (IX–) der »Sachsendirettisima« oder der Schweizerführe (IX–) und natürlich auch in die Wände in unserer heimatlichen Berchtesgadener Alpen. Der Untersberg, an dem in den letzten Jahren unter anderem der »Schertlepfeiler« zu einer Top-Route im IX. Grad saniert wurde, gehören genauso wie Hoher Göll, Reiteralm, Urlkopf und Hochkönig zu unserem Trainingsrevieren.
Unsere Logistik beinhaltete zudem eine gezielte Auswahl der Routen im Klettergarten. Um die Kraftausdauer zu trainieren, wählten wir lange Sportkletterrouten mit weiten Bohrhakenabständen und alpinem Gesteinscharakter (Leisten- und Plattenkletterei) in nur leicht überhängendem Gelände. Gute Ausdauer und enorme Konzentrationsfähigkeit über längere Zeit waren also geübt, um am Tag der Premiere den Tanz am Fels perfekt aufführen zu können. Trotz müder Unterarme muss der Zug zum nächsten Griff einfach gelingen. Denn der stärkste Muskel befindet sich ja – wie Wolfgang Güllich einmal treffend bemerkt hatte – bekanntlich im Kopf.
Auf geht’s zum Eiger
Nachdem wir das berüchtigte Karlsteinfest haben ausfallen lassen und glücklich dem Würgegriff der Arbeit entronnen sind, um die vom Internet angekündigte Schönwetterperiode auszunutzen, geht’s mit Sack und Pack in die Schweiz.
Die erste Begegnung mit der Route ist wie ein erstes Rendezvous. Alles ist neu, und beim Anblick des Pfeilers spüre ich leichtes Herzrasen.
Voller Energie und Tatendrang beginnen wir also mit der »Arbeit«. Am ersten Tag ist nach der Schlüsselseillänge für uns Schluss. Wir fühlen uns ziemlich ausgelaugt. Bei unserem nächsten Treffen am darauffolgenden Tag jedoch ist das Eis gebrochen, und wir gehen in die Vollen, um unserer großen Liebe zu imponieren und zu zeigen, was in uns steckt. Natürlich greift man dann zwangsläufig ins Fettnäpfchen bzw. daneben und blamiert sich bis in die Knochen – so ist es nun mal im Stadium der Verliebtheit. Wir stürzen aus einfachen Stellen, weil wir sie uns viel zu schwer machen und Griffe übersehen. Denn eine Route wird nicht schwerer bewertet, nur weil wir die leichteste Lösung nicht finden.
Nach zwei Klettertagen in der Wand wird es trotz bequemer Biwaknacht Zeit für die Rückkehr ins Tal. Dort werden wir schon sehnlichst erwartet – unser Sohn Emanuel und seine Oma Christa sind neben dem Wetter die wichtigsten Voraussetzungen für unseren Erfolg am Berg. Schließlich verbringen wir unseren Familienurlaub in der Schweiz! Auch wenn dieser für uns am Eiger, für die beiden im Tal jedoch im Eisenbahnmuseum oder auf dem Dampfschiff stattfindet, abgesehen von den Pausetagen…
Nach kurzer Erholung geht’s also zurück in die Wand. Heute gelingt mir die »Spit Verdonesque« rotpunkt. Ines ist noch nicht ganz so weit und benötigte etwas mehr Zeit zum Ausarbeiten der Schlüsselstelle.
Doch was sollen wir nun tun? Gleich einen Durchstieg der gesamten »Symphonie« wagen? Oder nochmals in den oberen Teil gehen, damit auch Ines den schwierigsten Teil in der Tasche hat? In der Hoffnung auf weiterhin gutes Wetter entschließen wir uns für die zweite Möglichkeit und kehren mit Rainer Eder, dem Fotograf aus Zürich, nochmals zur »Spit Verdonesque« zurück. Nun gelingt es Ines, während Rainer fotografiert, die schwierigsten Längen rotpunkt zu klettern. Damit ist der Weg frei für den gesamten Durchstieg der Route frei – wir warten auf den Tag der Wahrheit!
Der Tag der Wahrheit
Dass wir hier am Eiger sind, daran trägt vor allem unser Schweizer Freund Ueli Steck seine Schuld. »Mensch, die ›Spit Verdonesque‹ oder noch besser die ›Symphonie‹, die müsst ihr machen. Das ist eine gute Linie und an einem Tag hat sie noch keine Begehung, ihr schafft das!«
Seine Worte klingen uns noch in den Ohren, als wir uns am Einstieg unserer Route wiederfinden . Es ist halb sieben und gerade klettert die letzte von drei Seilschaften los. Was ist denn hier los? Hochbetrieb am Eiger?
»Was wollt Ihr denn klettern?« ist unsere ungläubige Frage. »›Le Chant du Cigne‹ – aber wir hoffen, dass wir schnell sind«, kommt die freundliche Antwort des jungen Franzosen, bevor er wie ein Eichhörnchen die Einstiegsplatten hinauf springt. Bis zur zwölften Seillänge haben wir Mühe, das Tempo der französischen Bergführeraspiranten zu halten. Dann teilen sich die Routen, unsere »Symphonie« führt über einige neue separate Seillängen zum Band, auf dem »Spit Verdonesque« beginnt.
Die erste schwere, für uns unbekannte Länge in diesem Verbindungsteil ist mit 7b bewertet (VIII+ nach UIAA, Anm. der Red.). Also ran an den Speck, denkt sich die Maus und sitzt bereits am dritten Bohrhaken in der Falle. Zu weit rechts geklettert und den nächsten Bohrhaken übersehen, weshalb ich langsam und vorsichtig zurück klettere, um einen Zehn-Meter-Pendelsturz zu vermeiden. Am Haken dann ruhig durchatmen und die Camalots heraufziehen, da die Löcher über mir Halt für sie versprechen. Fest wie ein Wurm im Apfel sitzen die Klemmgeräte und geben mir Sicherheit für den Vorstieg. Danach ziehen wir das Seil ab und klettern die Seillänge rotpunkt.
Um halb zwei stehen wir auf dem Band, wo mit »Spit Verdonesque« die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen. Euphorisch schauen wir den letzten zehn Seillängen entgegen, die mit je einer 7c, 7b, 8a und 7a (IX, VIII+, X–, VIII nach UIAA, Anm. der Red.) noch jede Menge Prüfungen bereit halten. Schon nach der 7c-Länge ist es vorbei mit der Euphorie, wir fühlten uns ausgepresst wie Zitronen und Zweifel trüben unsere Zuversicht wie Gewitterwolken den Himmel…
Der Showdown in der Schlüssellänge
Ines beginnt mit dem Duell, denn sie ist mit dem Vorstieg dran. Bisher sind wir – der Emanzipation sei dank – alles in Wechselführung geklettert. Vorsichtig und kraftsparend nähert sie sich der Schlüsselstelle. Nur keine unnötige Power vergeuden, lautet hier die Devise. Das Seil ist in die Schlinge vor der Schlüsselstelle eingehängt, und die linke Hand hält den Seitgriff wie eine Schraubzwinge. Der Fuß steht auf dem Reibungstritt und die Fingerspitzen ertasten das kleine Nichts für die rechte Hand. Jetzt nur noch den rechten Fuß auf die Leiste stellen und – mit einem lauten Schrei, der den pastösen Inhalt von Babywindeln beschreibt, geht’s ab in die Tiefe und nicht an die erhoffte Leiste der Erlösung.
»So Hansi, jetzt bist du dran, viel Glück«, höre ich Ines zu meiner Aufmunterung sagen. Aber nicht leichtfüßig und elegant, sondern verkrampft und unentschlossen kletternd ereilt mich das gleiche Schicksal wie Ines – nach einem Satz durch die Luft pendle ich im Seil.
»Einfach rein und alles rauslassen«, sind die Worte des Zuspruchs beim letzten Schluck Wasser aus unserer Trinkflasche. »Umsonst wird man nicht Weltmeister«, denke ich mir, als Ines wieder in der Schlüsselstelle steht und ohne mit der Wimper zu zucken über die kleinen Griffe zum Stand zieht. Wenige Augenblicke später steht sie wieder neben mir, um mich bei meinem Vorstiegsversuch zu sichern. »Einfach Vollgas geben«, ist die Zauberformel, die sie mir auf den Weg mitgibt. Der Zauber scheint tatsächlich zu helfen, denn auch ich erreiche daraufhin den Stand der Glückseligkeit.
Der obere Teil der Route läuft erstaunlich gut, so dass wir um halb neun den Sonnenuntergang am Ausstieg genießen können. Zufrieden und erschöpft lassen wir unsere Blick zum Fuß des Pfeilers wandern und verfolgen nochmals die 27 Seillängen, die hinter uns liegen. Uns ist die erste Rotpunkt-Begehung der Route »Symphonie de Liberte« an einem Tag gelungen, an unserem Tag der Wahrheit…
Zurückgeschaut: Es hat einfach alles gepasst!
Das Wetter und die Verhältnisse am Eiger waren ausgezeichnet, die Temperaturen in der Wand ließen optimales Klettern zu, so dass uns manche Seillänge leichter erschien, als sie bewertet war. Was für uns zum Vorteil war, war verheerend für den zentralen Bereich der Nordwand, wo durch die hohen Temperaturen permanenter Steinschlag herrschte, der die Wand zeitweise in Steinnebel hüllte.
Reger Flugverkehr von Helikoptern und anderen Flugmaschinen sind ein Zeichen ausgeprägter Zivilisation und hoher touristischer Erschließung, den wir hautnah miterlebten. Die freundlichsten Vögel waren die Paragleiter, die mehr Zeit für einen netten Zuruf hatten, als ihre herabstürzenden Kollegen. Basejumper ließen uns das Blut in den Adern erstarren, wenn sie ihren Flug erst kurz vor dem scheinbaren Aufprall am Boden durch Ziehen des Fallschirms stoppten.
Es sind die Sonnenuntergänge und die Stille im Biwak, der Anblick von Mönch und Jungfrau, die sich in unserer Erinnerung verewigt haben, und das Gefühl von Abenteuer, dass man oft nur in Nepal oder Südamerika findet.
Nach diesem Erfolg fühlten wir uns zwar glücklich, aber glücklicher als andere Bergsteiger wohl auch nicht. Noch bei der Fahrt mit der Zahnradbahn ins Tal wanderte der Blick zurück zur Wand, zu den neuen Linien, die es dort noch gibt und die nur darauf warten, geklettert zu werden. Und wieder begann es in uns zu brennen…