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Text von Beate Hitzler
Längst sind die gefrorenen Wasserfälle, die künstlich vereisten Wettkampftürme mit ihren Überhängen, in denen Ines Papert mehr Zeit im Jahr verbringt als zu Hause, nicht mehr ihre einzige Herausforderung. Mixedklettern, Fels- und alpines Klettern, meistens mit den schwierigsten Routen versehen, setzten neue Limits im Leben der unermüdlichen Powerfrau und Mutter eines vierjährigen Jungen.
2004 fällt ihre Wahl auf den Titlis, diesen hochaufragenden Berg in der Zentralschweiz mit seinem beeindruckenden Felspfeiler in der Ostwand. „Sonne von 7 bis 14 Uhr, Biwakhöhe und Wandfuß auf 2700 Meter, 13 Seillängen darüber auf 3200 Meter der Ausstieg“. Nüchterne Worte für ein Unternehmen das Respekt, höchste Konzentration und von jedem der es wagt das Unmögliche fordert. Das, egal wie es ausgeht, zutiefst berühren wird. Erst im Juli 2004 wird die „Letzte Ausfahrt Titlis“ von Stefan Glowacz erstbegangen und mit 8b bewertet. Jetzt, so befindet die Bergartistin, ist eine Frau an der Reihe, eine Rotpunkt-Begehung zu wagen. Eine Frau, die nach immer größeren Herausforderungen, nach dem Nächstschwierigeren suchen muss. Die sagt: „Für alpine Routen habe ich eine Schwäche, so eine Wand zieht mich magisch an. Denn als sie das Bild von dem Pfeiler sieht, ist sie begeistert, findet Stefans extrem schwierige Tour einfach genial. Und beschließt, ohne jemals eine 8b geklettert zu sein, sich die Route anzusehen. Vermessen, übermütig? Ines sagt, sie weiß es nicht: „Wenn ich etwas nicht weiß, dann muß ich mir eben Klarheit verschaffen.“ So einfach geht das bei ihr.
Was folgt sind acht Wochen Vorbereitung: Training im Hausgebiet Karlstein, einige 8a Routen im Klettergarten, viele kleine Griffe und insgesamt eine technisch sehr anspruchsvolle Kletterei. Kurz zuvor besteigt sie Rotpunkt den Schertlepfeiler 7c am Untersberg. Und fühlt sich endlich bereit für den Titlis. Doch der ist weit weg. Auf ihren Erkundungsfahrten in die Schweiz sammelt sie Strafzettel um Strafzettel, fährt fast immer zu schnell. Ines Gedanken sind längst in der Wand, in ihrer anderen Welt. Immer wieder bewundert sie von Engelberg aus kommend den markanten Pfeiler. Und korrigiert schließlich bei ihren insgesamt fünf Übungstouren mit Kletterfreunden, Stefans Glowacz’ 10. Grad auf 8a +, 10-. „Das schmälert nicht Stefans Leistung der Erstbegehung“, erklärt Ines. „Ist aber realistisch, wenn man die „Letzte Ausfahrt Titlis“ mit Routen im Klettergarten vergleicht. Also kein Alpinzuschlag und trotzdem eine super Route, die mir wirklich schwer genug ist!“ Wie schwer zeigt jeder einzelne ihrer Übungstouren: Erkenntnisreich zwar, aber immer wieder begleitet von ernüchternden Stürzen, Kletterfehlern, Pech, Dunkelheit, lädierten Nerven und bohrenden Zweifel am gesamten Projekt.
Doch Ines lässt nicht locker. Plant unermüdlich weiter, organisiert, checkt regelmäßig das Wetter im Internet. Damit alles läuft, müssen mehrere Faktoren übereinstimmen: Wetter, Kletterpartner und Babysitter. Fällt einer von den dreien aus, ist alles umsonst. Damit muß sie rechnen. Dann plötzlich ein starkes herbstliches Hoch, die definitiv letzte Chance vor dem Wintereinbruch dort oben. Jetzt geht es rasch: Ines Freundin Karin nimmt Emanuel zu sich, Thomas Steinbacher, ein alter Freund aus Ines Kletteranfängen sagt spontan zu, da seine Saison als Bergführer vorüber ist. Am 17. September erreichen sie nach anstrengenden 1500 Anstiegsmetern und der Überquerung eine reißenden Gletscherbaches das Grassen-Biwak. „Für Mitglieder und deren Ehefrauen 20 Schweizer Franken“, liest Ines dort auf der Preistafel, die noch von 1974, ihrem Geburtsjahr stammt. Emotionen kommen auf: „Was ist mit nicht-verheirateten, mit Frauen allgemein“, fragt sie sich. „Die sind gar nicht erwähnt. Ob mit mir ein neues Zeitalter anbricht? Schließlich nehmen jetzt wir Frauen Männer mit in die Wand, und haben auch noch die Möglichkeit, sie uns vorher auszusuchen. Wartet nur ab, ich werde es euch zeigen.“ Diese Gedanken machen ihr Spaß.
Am 18.September geht es endlich los. Thomas hat keine Lust auf Vorstieg im bekannten brüchigen Fels. Ines, die hohe Ansprüche liebt, ist längst darauf eingestellt und freut sich sogar, die ganze Route Rotpunkt im Vorstieg zu klettern. Wieder ist sie die erste, die es wagt die deutlich anspruchsvollere Begehung als in Wechselführung zu klettern. Sie fühlt sich ausgesprochen fit. Und auch der Kopf sagt spontan: „Diesmal geht’s. Vielleicht brauche ich ja den zeitlichen Druck, um an meiner Grenze klettern zu können.“
Ines Plan ist es, die Expressen zuerst einmal einzuhängen bevor sie einen Rotpunktversuch macht. Doch es kommt ganz anders. Schon nach den ersten Metern in der brüchigen (dies war die einzigst weniger brüchige Länge) 8a+ Ausdauerlänge, mit den wenigen Bohrhaken und der abschließenden Schlüsselstelle, fühlt sie sich besser denn je. Jede Schüttelstelle optimal genutzt steht sie plötzlich vor der eigentlichen Schlüsselstelle. In ihr ist sie bisher jedes Mal geflogen. Die verlängerte Schlinge hängt noch an ihrem Gurt. Aber sie entschließt sich hinein zu klettern. Zu schauen, ob es geht, sich trotz kleinster Leisten einzuhängen. Es wird eng, die Zeit reicht gerade noch, um die Schlinge in den Bohrhaken zu hängen, für das Seil reicht es nicht. Sie spürt ihre Kraft nachlassen, klettert trotzdem weiter, ohne zu zögern. Ein kurzer Blick zur letzten Sicherung und der bissige Entschluß: „Ich stürze nicht, ich will nicht stürzen!“ Als sie es schafft und sich in den Stand einhängt, drängt es nur so aus ihr heraus: Sie muss schreien vor Erleichterung und Freude, erlöst sich von allen schlaflosen Nächten und der ganzen Anspannung der langen Wochen zuvor.
Weitere zehn Seillängen liegen jetzt vor ihr, jede für sich mit einem hohen Anspruch an Geist und Körper. Sie steigt ein wenig zu locker weiter. Und dann reißt weit über dem letzten Haken ein Griff aus. Noch ohne das Bein aus dem Seil ziehen zu können, dreht sich Ines kopfüber, stürzt senkrecht nach unten. Fliegt zehn Meter im freien Fall und landet unter Thomas am Fels. Überall Blut. Woher es kommt? Sie weißt es nicht, spürt nichts. Bis sie endlich bemerkt, dass eine Felskante die Haut über ihrer Achillessehne aufgeschnitten hat. Bald ist alles Verbandsmaterial aufgebraucht. Also weiterklettern, ohne das Blut zu beachten, das in den Kletterschuh läuft? Die Beine sind weich wie Gummi als Ines die 6c + Länge noch einmal angreift, verhalten und aufgewühlt. Doch Seillänge für Seillänge beruhigen sich die Nerven, bald ist die gewohnte Vorstiegsroutine, die Entschlossenheit und Eleganz wieder da. Die siebte Seillänge brennt sich in ihr Gedächtnis, bleibt ihr später als eine der genialsten in Erinnerung: „Wir klettern auf den markanten Pfeiler, ich halte ihn im Arm wie meinen Allerliebsten und kann ihn nicht mehr loslassen. Ich probiere es rechts herum, dann links, nichts geht mehr. Die letzte Rettung ist eine lose Schuppe, der ich nur bedingt vertraute. Aber es gibt keinen anderen Halt. Ein kurzer Blick zwischen den Füßen durch bei der Suche nach einem Tritt. Da ist nichts als Luft. Gleich wieder nach oben schauen und nicht an einen Sturz denken, das ist meine Motivation.“
Dann die letzte schwere Länge 7b, ein kleines Dach und weite Züge. Es gilt, sich gescheit an kleinsten Leisten festzuhalten, trittlos zügig über schwierigste Stellen zu kommen. Und bei allem gewohnt cool zu bleiben. Das geringste Zögern bedeutet Sturz ins Seil. Dann noch drei weitere Längen bis 7a und es ist geschafft.
„Sauber geklettert“ hört sie Thomas in ihre Welt hinein gratulieren, in der sie acht Stunden abgetaucht ist. Dann ist Ines stolz wie nie zuvor, glücklich und unvergleichlich zufrieden. Eine Zufriedenheit, die sie nirgendwo anders erlebt, als beim Klettern. „Der Titlis“ sagt sie anschließend, „ist für mich der härteste Brocken, den ich mir bisher je ausgesucht habe! Ich habe mein Ziel geschafft, dieses Erlebnis kann mir keiner nehmen“. Dankbarkeit mischt sich in ihre Gefühle. Vor allem denen, die hinter ihr stehen: der Vater ihres Sohnes Emanuel, die Freunde, ihre Kletterpartner und Sponsoren: „Ohne sie wäre mein Leben in der Form nicht möglich!“
Fakten
Der Routenverlauf ist rot markiert: